Angetreten, die bisherige Bestzeit von 23:41 Stunden aus dem Jahr 2020 zu schlagen, sind wir zu fünft das Herzensprojekt von Martin Steinmeister gelaufen - den knapp 160 Kilometer langen Rothaarsteig von Brilon nach Dillenburg.
Nach zweieinhalbstündiger Anfahrt ist es schon eine Weile dunkel, als wir, Martin, Sascha, Jendrik, Sebastian und André den Startort Brilon mit unserem Fahrer und Supporter Thomas erreichen. Nachdem sich alle umgezogen haben, gehen wir zum Rathaus, wo der Rothaarsteig offiziell beginnt. Die Uhr zeigt 19:49 Uhr, als wir starten. Wenn wir den bisherigen Rekord aus dem Jahr 2020 schlagen wollen, müssen wir also um spätestens 19:30 Uhr des Folgetages in Dillenburg ankommen. Während Thomas mit dem Versorger-Auto zurückbleibt, brechen wir auf und nach kurzer Zeit verschluckt uns der dunkle Wald und wir erklimmen die ersten Höhenmeter. Die Temperaturen sind bei klarem Sternenhimmel sehr angenehm - kühl, aber optimal zum Laufen. Auch die Vorhersage für den kommenden Tag verspricht nur Gutes: strahlender Sonnenschein und bis zu 15° Celsius. Mit fünf Leuten ist es nie langweilig, immer gibt es jemanden zum Quatschen. Es geht hoch und runter, aber in der Dunkelheit sehen wir nicht viel von der Landschaft. Die offizielle Wegmarkierung ist nahezu perfekt, gleichwohl haben wir den Track der bisherigen Rekordhalterin auf der Uhr - wir wollen keine Fehler machen und ihr auf einem etwas ausschweifenden Talroutenstück folgen.
Gegen Mitternacht treffen wir Thomas wieder, der uns mit voller Camping-Garnitur und reichhaltigem Buffet die Nacht versüßt.
Weiter geht es zur Ruhrquelle und ins Skigebiet von Winterberg, wo wir mehrfach die präparierte Scheepiste überqueren müssen. Ohnehin sind noch überraschend viele Schneereste auf unseren Wegen, obwohl das Wetter schon seit einer Woche auf Frühling steht. Am nächsten VP um zwei Uhr ist es dann auch so kalt, dass wir noch zusätzliche Bekleidung drüber ziehen. Die kurze Hose bei dreien von uns war dennoch keine falsche Entscheidung, denn die allermeiste Zeit sind wir gelaufen und selbst etliche leichtere Anstiege nicht gegangen.
Um 6 Uhr färbt sich der Horizont langsam bunt und es kündigt sich ein wunderschöner Tag an. - Leider getrübt von Martins Ausstieg, dem Vater dieses Projektes. Durch den gleichzeitigen Wechsel unseres Supporters - verabschiedet mit einer von Jendrik 3D-gedruckten Medaille - kann Martin immerhin direkt mit nach Hause fahren, während Gerry fortan den Versorgungsvan von Thomas übernimmt.
Die Morgensonne strahlt nun in ihrer ganzen Pracht und Sebastian und André zücken immer wieder die Handys zum Fotografieren. Allerdings sind von der einstmals bewaldeten Gegend kaum noch intakte Bäume zu sehen - ein Anblick, wie ihn André aus dem Harz kennt, wo der Klimawandel in Gestalt des Borkenkäfers ebenso gewütet hat.
An einem Anstieg hören wir plötzlich ein Surren wie von einer Drohne. Wer ist denn hier in der Luft unterwegs? Es ist Gerry, der uns schon aus der Entfernung besucht und uns schließlich mit dem gedeckten Tisch zum zweiten Frühstück lädt. Zu Bananenbrot, Kartoffeln und vielen anderen Läufer-Snacks kommen nun noch Melone und Orangen dazu - da kann sich jede offizielle Veranstaltung eine Scheibe von abschneiden.
Nach knapp 14 Stunden erreichen wir die 100-Kilometer-Marke. Der Körper fühlt sich gut an und mit fast zwei Drittelen geschaffter Strecke wirkt ein erfolgreiches Finishen realistischer. Aber wird es auch von der Zeit her reichen? Wir sind ja nicht (nur) zum Spaß hier! Immer wieder schauen wir auf die ETA, die estimated time of arrival. Wir liegen zwar gut in unserem selbstgesteckten Rennen, aber jede Pause an unseren VPs zählt on top auf die Laufzeit und schmilzt den Puffer auf die maximale Zielzeit von 19:30 Uhr gnadenlos ab. Jendrik und Sascha setzen sich nun immer wieder an die Spitze und halten uns im Laufschritt. Für die Pausen bei Gerry setzen wir uns ein Zeitlimit von 10 Minuten, verkürzen aber die Etappen, in denen wir ihn treffen. Denn während in der kühlen Nacht 25 km problemlos überbrückbar waren, lässt die Wärme den Flüssigkeitsbedarf und die Sehnsucht nach Pausen ansteigen.
In kurz-kurz geht es durch baumkahle Landschaften weiter. Der Trailanteil ist nach wie vor gering, der Großteil des Rothaarsteigs besteht aus Forstwegen und wir freuen uns jedes Mal, wenn es doch mal trampelpfadig wird.
Gegen 17 Uhr erwartet uns Gerry das letzte Mal zum Essen - und hat eine besondere Überraschung für uns: die mitgebrachte, aber im Laufe der Zeit leider kaltgewordene Suppe hat er durch ein beherztes Überzeugungsmanöver des Küchenchefs eines lokalen Hotels aufwärmen lassen.
In der abendlichen Sonne machen wir uns auf die letzten 12 Kilometer nach Dillenburg. Gerrys Drohne begleitet uns zwei Kilometer und wir fühlen uns wie Profiläufer. Zeitlich sollte nun nichts mehr anbrennen, einzig die noch verbleibenden 200 Höhenmeter irritieren mich etwas. Und wenig später bestätigt sich Andrés Befürchtung: der Weg schlängelt sich noch einmal schön die Hügel hinauf an der Stadtgrenze entlang - wer schon einmal den Kapuzinerberg beim Mozart 100 gelaufen ist, weiß, was gemeint ist. Doch auch diese letzte Hürde kann uns nicht mehr stoppen. Mit einem Zielsprint über eine halbrote Fußgängerampel erreichen wir mit dem letzten Tageslicht das offizielle Ende des Rothaarsteigs vor dem Bahnhof von Dillenburg. Knapp 160 Kilometer in 22:54:44 Stunden zeigt die Uhr - die neue FKT ist erobert und Gerry lässt uns mit kaltem Hopfengetränk feiern!